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Alsatia: Studentenverbindung in Frankfurt am Main

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Pressemitteilung vom 3. Oktober 2016

Festrede von Landtagspräsident Norbert Kartmann MdL zur Akademischen Feierstunde der Turnerschaft Alsatia am 3. Oktober 2016 auf dem Campus Westend

Redemanuskript von Landtagspräsident Norbert Kartmann MdL:

Einheit Deutschlands und Einheit Europas – zwei Seiten derselben Medaille

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

eine zukunftsorientierte Rede ist ohne den Blick in die Vergangenheit und eine erklärende Wahrnehmung der Gegenwart nicht möglich. »Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart«, sagte Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag.

Als sich am Abend des 9. November 1989 die Mauer in Berlin öffnete, starrten wir ungläubig auf die Bildschirme. Was war da los? Wir schalteten hin und her in den damals noch wenigen Programmen. Überall die gleichen Bilder. Es ist weiß Gott wahr: die Ostberliner gingen durch die eisernen Tore der Berliner Mauer nach Westberlin. Ein hoch emotionaler Moment, der solange die Oberhand behielt, bis der nüchterne Verstand soweit wie möglich wieder einsetzte.

Natürlich hatte es im Laufe der 1980er Jahre Anzeichen gegeben, dass sich Veränderungen im Osten Europas zeigten. Die Solidarność-Bewegung mit Lech Walesa nenne ich hier als einen Anfang von Veränderungen, die anders als frühere an Stetigkeit gewannen.

  • 1953 der Volksaufstand in Ost-Berlin und der gesamten sowjetischen Besatzungszone, so der damals offizielle Sprachgebrauch, von sowjetischen Panzern niedergeschlagen,
  • 1956 der Aufstand der Ungarn, von sowjetischen Panzern niedergeschlagen,
  • 1968 der Reformversuch von Alexander Doubcek in Prag, von sowjetischen Panzern und Panzern des Warschauer Paktes niedergeschlagen und erstmals nach dem 2. Weltkrieg fuhren wieder Panzer mit deutschen Soldaten in die Stadt an der Moldau.

Diese Ereignisse waren deutliche Zeichen des Freiheitsstrebens osteuropäischer, unter kommunistischer Herrschaft stehender Völker, alle wurden militärisch niedergeschlagen.

Dann aber die Charta ’77, ein Manifest für die Freiheit, deren Verfasser zwar unterdrückt und von den kommunistischen Machthabern auf der Prager Burg verfolgt wurden, aber sie schossen nicht mehr. Und jetzt, am 14. August 1980 stand ein polnischer Arbeiterführer, Lech Walesa, auf der Mauer der Lenin-Werft in Danzig und bot dem kommunistischen Regime in Warschau die Stirn – und auch dieses Regime wagte es nicht mehr zu schießen. Es hatte in den 1970er Jahre auch schon genug geschossen.

Zu erwähnen ist hier an dieser Stelle der 16. Oktober 1978: der Erzbischof von Krakau, Kardinal Karol Wojtyła, wird Papst, Johannes Paul II. Die Rolle dieses Papstes hier angemessen zu beschreiben, sprengt den Rahmen, aber sie im Zusammenhang mit dem Prozess der Auflösung des sowjetisch-kommunistischen Machtbereichs und damit auf die Umwälzungen im damaligen Ostblock zu beschreiben ist unverzichtbar. Der schrittweise Erfolg der Solidarność ist ohne diesen Papst nicht denkbar.

Die Dramaturgie dieser Tage fesselte mich wie viele andere und wie selten zuvor an den Bildschirm. Damals, das spürte ich, begann sich etwas zu verändern und es keimte eine erste Hoffnung in mir. Sollte es wirklich irgendwann doch möglich sein, dass ich meine Verwandten im rumänischen Siebenbürgen ohne die Überwindung des Eisernen Vorhangs besuchen könnte?

Persönliche Erinnerungen: Mit 12 Jahren erlebte ich als Kind erstmals dessen Überwindung eher als Abenteuer, im Laufe der Jahre mit wachsendem geschichtlichem und politischem Bewusstsein, welches mir mehr und mehr klar machte, dass da etwas geteilt war. Eine widernatürliche Teilung zumal, die ich im Laufe der Jahre mehr und mehr nicht zu akzeptieren bereit war. Aber parallel dazu wuchs auch die Erkenntnis der Machtlosigkeit.

So fuhr ich Jahr für Jahr quer durch Europa – durch Wien, durch Budapest, die Donau ein gutes Stück entlang, hinein in den Karpatenbogen, immer – ab Passau – im einstigen Österreich-Ungarn. Ich hatte bei diesen Fahrten immer meinen Atlas dabei. Die physikalischen Landkarten interessierten mich dabei besonders, die Gebirge in braun, die Ebenen in Grün, die Flüsse in blau und die Städte in rot. Und ich sah Ländergrenzen, friedlich und ungefährlich. Alles Europa.

Und dann plötzlich irgendwo zwischen Wien und Budapest: Stopp, Schlagbaum, riesige Stacheldrahtverhaue, spanische Reiter, Panzersperren, Soldaten, Kalaschnikows, Grenzzäune. Also nicht nur an der Zonengrenze, später der innerdeutschen Grenze.

Ich weiß, was ein eiserner Vorhang im wahrsten Sinne des Wortes ist. 1961 und jedes Jahr erneut auf dem Weg zu meiner Großmutter, die auf der anderen Seite dieses geteilten Europas lebte. Was konnte sie dafür?

Der Zufall wollte es, dass ich vor wenigen Tagen diese Zeilen gerade in mein iPad tippte, als ich von Berlin kommend die Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen passierte – seit 1990 Landesgrenze zwischen zwei Bundesländern – bis vor 26 Jahren die innerdeutsche Grenze mit Stacheldraht und Todestreifen. Ein ehemaliger DDR-Wachturm steht da noch, ein Mahnmal fürwahr. Die deutsche Teilung bzw. die Erinnerung daran holt mich in die Gegenwart zurück, von den aufregenden Bildern aus dem Polen der 1980er Jahre zu den Bildern des Jahres 1989.

Erinnern wir uns: die Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich, die Szenen in der Botschaft in Prag, der berühmte Auftritt von Genscher dort, die Protestmärsche in Leipzig und zunehmend in der gesamten DDR, die Rufe »Wir sind das Volk« bis zu »Wir sind ein Volk«, Gorbatschows »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, der schier unglaubliche Satz Schabowskis: »Ja, ich glaube schon, diese Regelung gilt ab sofort.«

Ein Film spulte in mir ab, als ich den ehemaligen Grenzübergang Helmstedt, einem von den vier möglichen Übergängen zu DDR-Zeiten, den vier Lebensadern auf dem Landweg nach West-Berlin, passierte.

Schabowski, ob er wusste, dass er an diesem Abend auch Geschichte schreiben würde? Die Folgen waren wie in einem guten Tatort:

  • Bornholmer Straße bis Herleshausen, an hunderten Stellen jubelnde Menschen;
  • Willi Brandts zunächst versteckter, erst später deutlicher werdender Satz »Es wächst zusammen, was zusammen gehört«,
  • Helmut Kohls Rede zu seinem historischen 10-Punkte-Plan vor dem Deutschen Bundestag,
  • seine Rede vor der Frauenkirche in Dresden;
  • und seine kluge Politik, die letztlich die Widerstände gegen die deutsche Einheit in Teilen Westeuropas und in Moskau überwand und die ihn unwiderruflich weit über den Tag hinaus zum Kanzler der deutschen Einheit machte.

Plötzlich stand die deutsche Frage auf der Tagesordnung der deutschen und europäischen Geschichte und nicht jeder bundesdeutsche Politiker sah das so.

Persönliche Erinnerungen: Mitte der 1990er Jahre nahm meine damals 15jährige Tochter ein halbes Jahr an einem Schüleraustausch in Pittsburgh teil. Der Lehrer hatte zu ihrer Begrüßung eine Wand-Landkarte mitgebracht, die er irgendwo im Keller der Schule aufgegabelt hatte. Eine Karte mit Deutschland in der Mitte und den Nachbarländern. Der dicke rote Strich reichte in der Mitte von der Ostsee bis – um die Tschechoslowakei herum – eben an die ungarisch-österreichische Grenze.

Der Anruf meiner Tochter und ihre Frage an mich war eindeutig: wie erkläre ich, dass es den roten Strich nicht mehr gibt. Ich empfahl ihr, am anderen Tag mit einem grünen Marker diesen roten Balken zu überzeichnen. Dies gelang ihr beeindruckend und zur totalen Überraschung des Lehrers.

Jenseits des Atlantiks war – und dieses Beispiel ist nicht nur ein einzelnes – die deutsche Frage zumindest in der Breite des Volkes nie ein Thema. Schon die Verwechslung von »Federal Republic of Germany« und »German Democratic Republic«, der man in den USA immer wieder begegnete, macht dies auch deutlich.

Die Einheit Deutschlands aber ist ohne die Einheit Europas nicht denkbar, sie wäre nicht erreichbar gewesen. Dies war im Bewusstsein der amerikanischen Administration wie auch in London und Paris richtungsweisend. Man frage Frau Thatcher, die eiserne Lady. Oder denken wir an Mitterand, der de Maizière in Ost-Berlin besuchte, um sich zu überzeugen, dass die Deutschen im Osten das auch wirklich wollten, was ihm Freund Helmut mit höchster Intensität zu erklären versuchte. George Bush war ja Gott sei Dank kein Hindernis, eher ein Beschleuniger der Kohl’schen Politik.

Selbstverständlich ist der Zerfall des Warschauer Pakts und des Comecon, also des sowjetisch-kommunistischen Machtbereichs, in enger, ja ursächlicher Verbindung mit Gorbatschows Politik des Glasnost und der Perestroika zu sehen. Er hat diesen Prozess geprägt und er war auch Getriebener. Die Panzer blieben in den Kasernen. Dies war das Verdienst von Michail Gorbatschow – ohne Zweifel.

Die Einheit Deutschland war also ohne die danach erfolgte schrittweise Einbindung der osteuropäischen Staaten in die EU nicht denkbar. Die Vollendung der deutschen Einheit und die Beendigung der europäischen Spaltung sind die zwei Seiten der gleichen Medaille.

Selbstverständlich war es auch für Gorbatschows Politik von Bedeutung, gerade auch nach innen, das wiedervereinigte Deutschland sowohl in der EU, ja sogar in der NATO eingebunden zu sehen, wenn es für die Sowjetunion schon nicht möglich war, ein neutrales Gesamtdeutschland zu erreichen – dies war ja die eigentliche Absicht Gorbatschows. Dieser Gedanke war aber schnell vom Verhandlungstisch.

Der Beitritt der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und der baltischen Staaten zur NATO wurde aus Sicht der Sowjetunion dagegen natürlich mit großer Skepsis betrachtet.

Moskau konnte es aber nicht verhindern. Zu groß war der politische Wille besagter Staaten, sich aus dem Herrschaftsbereich der Sowjetunion zu lösen, sich vor dieser zu schützen, obwohl sich eben diese Sowjetunion in Auflösung befand. Das Misstrauen gegenüber Moskau war – und ist – sehr groß. Dass die Ereignisse in der Ukraine für diese Staaten geradezu als Bestätigung dieses Misstrauens wirken, liegt auf der Hand.

Es verblieben also bezogen auf die neue Entwicklung im Osten Europas die Ukraine, Weißrussland und Moldawien in der Einflusssphäre Russlands, natürlich aus dessen Sicht unverzichtbare Pufferstaaten. Allerdings sahen dies die Anrainerstaaten dieser drei Staaten aus ihrer Sicht ebenso.

Somit war eine geopolitische Struktur auf unserem Kontinent entstanden, die Stabilität versprach. Die Hoffnung, diese Stabilität könnte nicht ins Wanken geraten, wurde schon in den 1990er Jahren durch die Balkankrise empfindlich gestört.

Wenn der Balkankrieg auch ein regional begrenzter Konflikt ohne überregionale Vernetzung war, tangierte er doch die europäischen Interessenssphären. Russland stand und steht immer an der Seite Serbiens. Der zunehmende Drang Serbiens Richtung EU wird diesbezüglich Auswirkungen haben, wenn der Beitritt in einigen Jahren Wirklichkeit werden sollte.

Letztlich ist die neue Ordnung in Europa zwar nicht bedroht, aber doch empfindlich getroffen durch Russlands Annexionspolitik auf der Krim und im Donbass, also in der Ostukraine. Der Drang des Russlands von Putin nach der Schmach des Niedergangs als Weltmacht – so sieht Russland die Entwicklung der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts – wieder an politischer Macht in Europa und weltweit zu gewinnen, bricht sich Bahn in wohlkalkulierten militärischen Schritten auf der Krim, in der Ukraine und – dies gehört in gewissen Sinn dazu – in Kleinasien, also konkret Syrien.

Das Ende der Blöcke mit dem Ende der europäischen und deutschen Teilung hat nicht nur die militärische Bedrohung insgesamt vermindert, sondern auch die Balance zwischen den einstigen Weltmächten UdSSR und USA aufgelöst, mit noch absehbaren Folgen. Es hat den sogenannten »Kalten Krieg« in seiner Ost-West-Formation beendet.

Das damit einhergehende Ende der Blöcke hat aber zugleich eine Vakuumsituationen erzeugt, die auch in anderen Regionen Europas und seines Umfeldes Bewegungen und Entwicklungen ermöglicht, mit denen wir heute und auch in Zukunft zu kämpfen haben werden:

  • ein noch nicht stabiler Balkan,
  • ein labiler arabischer Raum inklusive der Türkei und der mittelasiatischen Problemzone Afghanistan/Pakistan,
  • die nordafrikanische Zone von Ägypten bis zu den Maghreb-Staaten nach dem Scheitern des sogenannten »arabischen Frühlings«,
  • der expandierende Islamismus und damit die Auswirkungen von 9/11 auf die ganze Welt,
  • der Beginn einer sich intensivierenden Migrationsbewegung von arm zu reich
  • und schließlich ein politisch und ökonomisch zur Weltmacht gereiftes China, was positiv zu bewerten ist, trägt es doch zu einer für die Zukunft wichtigen globalen Balance bei.

Meine Damen und Herren, vom Ende der deutschen, der europäischen Teilung bis zur Suche nach einer neuen ausbalancierten Welt spannt sich der Bogen bis hierhin. War das

20. Jahrhundert in seiner ersten Hälfte geprägt durch zwei von Deutschland zu verantwortenden letztlich weltweiten Kriegen und paradigmatischen politischen Umbrüchen in Europa

  • wie dem Wechsel von der Monarchie in Deutschland zur ersten parlamentarisch-demokratischen Republik – wenn auch nur von kurzer Dauer für 14 Jahre –, die den Beinamen Weimarer Republik erhielt,
  • oder wie dem Umbruch von der zaristischen Diktatur in eine sich an der marxistischen Ideologie orientierenden kommunistischen Diktatur, die 70 Jahre anhielt,

war die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts dem Bemühen gewidmet, aus den beiden Kriegen Lehren zu ziehen. Dies gelang ohne Zweifel – Stand heute – am besten auf dem europäischen Kontinent, trotz Balkankrieg, Ukrainekrieg und Krimannexion.

Zweifelsohne ist dieser Erfolg aufgebaut auf dem Kalten Krieg zwischen beiden Blöcken, auf den militärischen Drohpotentialen, die sich mitten in Deutschland gegenüberstanden. Aber ist gibt auch den Erfolg, der nicht nur mit dem Begriff der »friedlichen Koexistenz« zu bezeichnen ist, sondern der ein reales Friedenswerk darstellt, zumal zwischen Ländern, die sich mit Blick auf Frankreich und Deutschland einst als Erzfeinde bezeichneten.

Im nächsten Jahr begehen wir den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der römischen Verträge durch die Gründungsstaaten Italien, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Niederlande und Deutschland. Schumann, de Gasperi und Konrad Adenauer waren Protagonisten einer europäischen Nachkriegsordnung, die uns 70 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht hat.

Aber es bedarf auch der Erinnerung an einige andere Namen großer europäischer Staatsmänner, die allesamt nach dem 2. Weltkrieg erkannten, dass nur eine enge Zusammenarbeit europäischer Staaten den Frieden sichert und politische und ökonomische Stabilität möglich macht:

Jean Monnet, Joseph Bech, Johan Willem Beyen, Sicco Mansholt, Winston Churchill, Alcide de Gasperi, Altiero Spinelli, Paul-Henri Spaak und Walter Hallstein, dem ersten Kommissionspräsidenten.

Europa, so wie es sich heute zeigt, hat also seine Grundlage in dieser EWG und deren Vorläufer EVG, die scheiterte, und der Montanunion, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Von Anfang an war es aber auch ein geteiltes Europa, wie es auch ein geteiltes Deutschland war. Der Eiserne Vorhang schloss sich zunehmend zwischen Ostsee und Donau, deutsch-deutsch, tschechoslowakisch-deutsch, tschechoslowakisch-österreichisch, ungarisch-österreichisch.

Es klingt zwar logisch, dass die Wiedervereinigung Deutschlands auch die europäische Einheit zur Folge hatte. Aber so einfach ist ja es nicht gewesen. Der Zusammenbruch des kommunistischen Machtbereichs, also der sowjetischen Hegemoniesphäre, ist das Ergebnis der ökonomischen Überlegenheit des Westens auf der einen Seite und einer militärischen Strategie der NATO auf der anderen Seite, die den Warschauer Pakt schlichtweg überforderte.

Im Rückblick ist man natürlich immer klüger, aber es gibt auch Feststellungen, die objektiver Natur sind. Die Euphorie der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung war spürbar und versperrte hier und da den Blick auf andere Gefährdungspotentiale auf dieser Welt. Die Ereignisse auf dem Balkan hatte ich bereits angesprochen, wie auch die Politik Russlands. 9/11 zum Beispiel zog eine globale Veränderung nach sich, in ihren Folgen noch nicht absehbar, wiewohl wir uns schon mitten in diesem Wirkungskreis befinden.

In der sich seit der Wiedervereinigung stetig verändernden Welt muss nun Europa seine Rolle finden, weil es etwas »von der Rolle« gekommen ist. Die Finanzprobleme vor allem südeuropäischer Staaten, die momentane Unfähigkeit zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik, der geplante Ausstieg Großbritanniens aus der EU, zunehmende nationalistische Flecken auf der europäischen Landkarte und außenpolitische Aufgaben von größter Schwierigkeit, sind für Europa eminente Herausforderung, zudem in Zeiten eigener Schwäche.

Aber diese Fragen, diese Aufgaben, diese Probleme sind nicht zu beantworten, zu lösen ohne ein gemeinsames Europa. Weder eine regionale, noch eine globale Friedenspolitik und eine ökonomisch positive Entwicklung sind mit einem Rückfall in Kleinstaaterei, zumal mit nationalistischer Prägung, leistbar.

Europa als gemeinsamer Wirtschaftsraum allein kann beispielsweise die ökonomischen Herausforderungen im Wettbewerb mit den großen Wirtschaftsräumen Nordamerika und Ostasien stemmen.

Meine Damen und Herren, die Geschichte der letzten 70 Jahre, hier dargestellt im Zeitraffer, macht deutlich, dass es eines gemeinsamen Europas bedarf, um die benannten Problem zu lösen bzw. international zu deren Lösung beizutragen. Deutschland kommt dabei im europäischen Konzert eine Schlüsselrolle zu, zurzeit wohl die zentrale Rolle. Und damit einhergehend ist unser Land auch global in einer sehr einflussreichen und verantwortungsvollen Position zu finden.

Ich will hier innenpolitische Fragestellungen nicht ansprechen, aber es ist wohl erlaubt zu sagen, dass die öffentliche Meinung und die in Teilen der Bevölkerung diskutierte Meinung in unserem Land über das eigene Land mit den objektiven Fakten nicht allzu sehr übereinstimmt. Die durch alle Daten und Fakten belegbare Feststellung, dass es uns Deutschen in unserer Geschichte noch nie so gut ging wie zur Zeit, findet nicht den Widerhall, der ihr eigentlich gebührt.

Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Datum, an dem wir Grund haben zu Feiern. Er bleibt das Datum der Gegenwart und der Zukunft, nicht nur, weil wir jetzt endlich auch einen nationalen Feiertag haben. Natürlich nicht. Aber, wenn das Erhoffte, aber Unerwartete eintritt, ist dies ein Ereignis für die Geschichte.

Jede Erledigung einer Aufgabe gebiert neue. In der ersten Fassung des Grundgesetzes heißt es im letzten Satz der Präambel:

»Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.«

Und schon am Anfang dieser Präambel steht festgeschrieben:

»… und von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …«

Dieser Auftrag ist erfüllt. Und so heißt es in der durch den Einigungsvertrag formulierten neuen Fassung dieser Präambel:

»Die Deutschen … haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk.«

Die Aufgabe der Zukunft bleibt, nämlich in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Dies ist der Auftrag des deutschen Volkes, er ist ein zeitlich unbegrenzter Dauerauftrag und er dient dem deutschen Volk.

Dass dies alles heute unter anderen Voraussetzungen als 1949 oder 1990 auch weiterhin seine Gültigkeit besitzt, ist nicht zu bestreiten. Was heißt das für uns? Ich zitiere noch einmal Richard von Weitsäcker aus seiner 1985er Rede:

»Wir in Europa können nicht weiterhin eine Insel des Wohlstands, der Demokratie und des Friedens sein, wenn in anderen Teilen der Welt Hunger, Ungerechtigkeit, Flüchtlingselend, Terror und Gewalt herrschen.«

Wie gesagt: 1985, also vor 30 Jahren. Und gerade daran scheiden sich aktuell die deutschen Geister, aber auch die europäischen. Allerdings: wenn 60 Prozent der Ungarn sich am Referendum gegen eine europäische Flüchtlingspolitik nicht beteiligen, ist dies zumindest ein Hoffnungsschimmer. Aber es wachsen auch in unserem Land Unsicherheiten und Ängste in unserer Gesellschaft und es entstehen nationalistische Strömungen. Diesen entgegenzutreten ist der Auftrag aus dem Grundgesetz.

Meine Damen und Herren, die Zukunft wird nicht einfacher, aber sie kommt. Ich wünsche dem deutschen Volk, also uns, und ich wünsche Europa eine gute Zukunft in Frieden und Freiheit.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


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